Beim Anstossen während der Adventszeit und auch an Heiligabend hörte ich dieses Jahr mehrmals Sprüche wie: „Hoffen wir auf ein besseres 2024!“ oder „Endlich ist dieses Jahr zu Ende!“. Krieg und nochmals Krieg. Inflation, Unsicherheit, Erschöpfung.
Hoffen darf man immer. Es ist aber ein heikles Konzept. Das wirkliche Unbehagen, das uns zum Jahresende begleitet ist nicht das Unheil an sich, sondern die leise Erkenntnis (oder das dumpfe Gefühl), dass es nicht besser wird im neuen Jahr. (Zentrales Element beim Versuch, die Hölle zu charakterisieren: Es ist unerträglich und es hört nicht auf.)
Aber warum hört es nicht auf? Betreffend Hölle: Zurzeit gibt es nicht nur eine mentale, sondern eine sehr reale Hölle und zwar in Gaza. Alle wissen das und die Tatsache, dass Bethlehem sich inmitten dieses Krisenherds befindet, beschämt uns irgendwie. Zu recht. Es ist zutiefst beunruhigend, dass Grenzen überschritten werden, von denen wir bisher dachten, dass sie intakt bleiben würden. Dass Krisen wieder Ausmaße annehmen, die eben noch undenkbar gewesen waren. Damit reiht sich der neuste Krieg in die Reihe von Erschütterungen ein, die von Covid und Lockdown, über den Ukraine-Krieg bis hin zum Hamas-Angriff und Gaza-Krieg reicht. Das was da passiert, ist ein Kollaps auf mehreren Ebenen. Es Kollabieren Ordnungen, die wir für solide hielten, es werden offen Dinge angetan, die wir für unmöglich hielten, es bricht der feste Boden unter den Füssen ein, der zivilisatorische und kulturelle Boden, von dem wir dachten, dass wir von ihm ausgehen konnten. Nun fragt man sich, wie es weitergehen soll.
Zu Episoden des Untergangs gehört eigentlich, dass sie etwas offenbaren. Biblisch gesprochen: Die Apokalypse offenbart eine kommende Welt. Griechisch gesagt: Der tragische Untergang des Helden lässt eine Wahrheit aufleuchten und greifbar werden. Damit spenden sie in der Not auch Hoffnung. Und eben darum geht es ja an Weihnachten, um die Geburt eines unerhörten Hoffnungsträgers. Nicht zufällig liegt das Datum von Heiligabend praktisch auf der Wintersonnenwende, dem kürzesten Tag und der längsten Nacht also – der Moment der grössten Finsternis. Wir verstehen aber schmerzlich: Es geht uns kein neues Licht auf.
Frühere Episoden enthielten diese Kraft der Erneuerung. Während des ersten Weltkriegs, in dem eine ganze Weltordnung zusammenbrach und das alte Europa für immer verschwand, vollzog sich in Russland eine Revolution, die grösste Kriegspartei zog sich aus dem Gemetzel heraus und verwirklichte ein neues Gesellschaftsmodell. Oder: Mit Ende des zweiten Weltkrieg wurde die globale Institution der Vereinten Nationen gegründet. Auch der Völkermord als juristischer Begriff wurde kurz darauf geboren – einen solchen Tatbestand gab es zuvor nicht. Es wurde Hoffnung geschöpft, Fehler wurden eingesehen und beseitigt. Doch heute: Heute werden sie zurückgeholt wie stinkende Leichen aus einem verfluchten Keller. Apokalyptische Siegel werden geöffnet und Höllen brechen aus – doch offenbart wird nichts. Nichts, was wir nicht schon wussten. Das ist die tiefere Ursache für unsere Verzweiflung, mehr noch als das Chaos an sich. Ein Chaos, aus dem nichts Neues geboren wird.
Aber was heisst das, es wird nichts offenbart? Katastrophen und Tragödien offenbaren immer etwas. Wenn heute nur ein erschreckendes Nichts zum Vorschein kommt, so liegt das nicht an der Verschlossenheit der Welt sondern an unserer Ignoranz. Genau diese Ignoranz aber ist sowohl das, was sich objektiv manifestiert wie auch das, was uns weiterhin daran hindert, diesen Zusammenhang zu erkennen. Wir ignorieren unsere Ignoranz. Eine sehr unheilvolle innere Logik, denn: Wir ignorieren, dass unsere Ignoranz die Ursache für jene bedrohlichen Auswüchse ist, die sich nicht weiter ignorieren lassen.
Und diese Ignoranz ist heute kulturell, institutionell, politisch, medial usw. Denn obschon wir uns für extrem innovativ halten – was die herrschenden Strukturen angeht, sind wir sehr konservativ. Wir investieren ungeheure Energien in die Erhaltung eines abbruchreifen Weltbilds und eines dysfunktionalen Systems. Sehr un-weihnachtlich! Denn: Mit der Geburt Christi wurde Gott dramatisch, tragisch, dynamisch. Er wurde geboren, er litt, verreckte und wurde wiedergeboren. Er hörte auf, eine unantastbare jenseitige Substanz zu sein, er wurde aktuell, existierte, hier und jetzt. Er wechselte vom Modus der Erhaltung zu jenem des Verbrauchs und der Regeneration.
Wir aber krallen uns fest. Das Über-Narrativ des Ukraine-Kriegs: Ein Teufel ist an allem Schuld, während wir nur unsere bewährte Ordnung verteidigen – der Westen ist gut, muss sich nicht wandeln, muss keine schwerwiegenden Fehler eingestehen und der Feind ist das Böse schlechthin. Keine innere Erschütterung, keine Ahnung davon, was die eigene Mitverantwortung an der Genese dieser Katastrophe angeht – stattdessen: äussere Abschottung, totale Aufrüstung, Ausbau des Feinbildes, peinliche Regression in traurige Zeiten.
Der blutige Krieg ist deshalb nur die logische Konsequenz unserer geistigen Kapitulation aufgrund fehlenden Muts. Denn Geburtswehen tun weh, wir scheuen sie! Dasselbe im Falle von Israel: Die braven westlichen Länder im Allgemeinen und Deutschland im Besonderen haben nicht den Mut zur Wahrheit: „Niemals wieder“ ist ein generelles Prinzip, das allen zusteht und sich auf Handlungen bezieht – wir aber beziehen es nur auf einen Staat im Speziellen. Unsere Loyalität gilt einer spezifischen Gruppe, anstatt einem universellen Wert, einer unverrückbaren und exklusiven ewigen Vision, anstatt auf einer inklusiven Realität. Dass wir damit dem Geist von Weihnachten entgegen wirken, das wissen wir im Grunde.
Darum: Die Angst, ausgegrenzt und bestraft zu werden: Sofort loswerden! Die kleinbürgerliche Furcht, zu einer schrägen Randruppe gezählt zu werden, die Unerhörtes behauptet: Um Himmels willen – sofort ausspucken! Wurde nicht die Schar um Jesus als Sekte verrufen? Und wurden nicht Bahnbrecher zu jeder Zeit exkommuniziert (wenn sie nicht vorher von sich aus zu Sezessionisten wurden)?