Nicht mein Europa

Appell an den Mut zur Verantwortung

Von Sándor Sabazios (aka Stefan Vogt)

 

Europa steht heute an einem Kipppunkt. Dieser Begriff wird oft in Bezug auf den Klimawandel verwendet, er stammt aber ursprünglich aus der Soziologie und Massenpsychologie. Das passt gut zur aktuellen Lage. Auch wir befinden uns an einem Kipppunkt – an einem umfassenden Kipppunkt des gesellschaftlichen, politischen und ökologischen Klimas. Ein Blick auf drei verheerende Krisen mit großer Dringlichkeit macht das deutlich: Der Krieg im Nahen Osten, der Ukraine-Krieg, und das Projekt im Jadar-Tal Serbiens, wo die größte Lithium-Lagerstätte der Welt zum Abbau freigegeben werden soll. Erschreckenderweise nehmen die Verantwortlichen aus Politik, Wirtschaft, Diplomatie und Militär ihre Verantwortung nicht wahr, an diesem Punkt mutig und intelligent zu agieren. Dieser Appell richtet sich deshalb direkt an sie. Denn: In allen drei Fällen handeln sie nachweislich gegen den Willen der Bevölkerung.

Um ein konkreteres Gefühl für dieses umfassende Klima zu bekommen, reicht es, an den Nahen Osten zu denken. Es herrscht eine beängstigende Blindheit dafür, welche weitreichenden Konsequenzen die ungebrochene Unterstützung Israels für die Länder Europas haben wird. Mitanzusehen, wie fortlaufend Kriegsverbrechen vor den Augen der medialen Öffentlichkeit begangen werden, hinterlässt tiefgreifende Spuren, deren destruktive Folgen eine innere Zersetzung nach sich ziehen werden. Das Leid zu sehen, verursacht bereits ein bitteres Mitleid. Täglich festzustellen, dass diese Verbrechen geduldet und aufwendig abgefedert, ausgeblendet oder relativiert werden, verursacht darüber hinaus ein Gefühl, das schwer zu beschreiben und insgesamt unerträglich ist. In Bezug auf Israel ist des Öfteren die Rede von der „einzigen Demokratie der Region“. Haben Sie sich überlegt, wie das von anderen aufgenommen und verstanden wird? Von Menschen aus Gesellschaften außerhalb unserer westlichen Blase – in einem Umfeld, in dem diese unfassbaren Zustände eben nicht ausgeblendet werden? Was denken Sie, welchen Eindruck die Menschheit vom Modell der Demokratie mit auf den Weg nimmt, wenn wir auf diesen hasserfüllten, menschenverachtenden und kriegsverbrecherischen Staat zeigen, mit dem Hinweis: „Das ist eine Demokratie“? Ein Staat, der Pager-Attacken durchführt, von dem der ehemalige CIA-Direktor (!) Leon Panetta sagt, es sei „eine Form des Terrorismus“. Haben Sie sich schon einmal gefragt, ob diese fälschlicherweise als Details missachteten Momente etwas mit der Entwicklung zu tun haben könnten, die sie andauernd heftig beklagen, nämlich dem weltweiten Rückgang von demokratisch orientierten Ländern? (Nicht zuletzt in Europa!)

Hier liegen zwei traurige Vermutungen nahe. Entweder, dass Sie sich das eben nie gefragt haben. Oder, dass Sie sich das nebenbei gefragt haben und zu dem Schluss gekommen sind, dass die Antwort „nein“ lautet, dass das Eine nichts mit dem Anderen zu tun hat. Aber eben da lässt sich Ihr Mangel an Führung lokalisieren, im Unvermögen, die entscheidenden Zusammenhänge zu berücksichtigen. Was in den letzten Wochen, Monaten und Jahren an Schaden angerichtet wurde, ist beinahe unmöglich abzuschätzen. Wir denken an Gaza, das flächendeckend bombardiert wurde, unzählige Male. Ich möchte aber die These wagen, dass der wahre Ursprung dieses materiellen und körperlichen Schadens in einer geistig-moralischen Ruine liegt. Und diesen Ruin treiben wir auf der eigenen Seite weiter voran, indem wir es versäumen, uns resolut und wirksam von einer Regierung und ihren Geschäften zu distanzieren, die solche Verbrechen begeht und das noch mit einer unglaublichen Selbstgefälligkeit.

Dass solche Zusammenhänge sehr real und keineswegs spekulativ sind, müsste an Beispielen wie der Messerattacke von Solingen leicht zu erkennen sein. Der ganze verzweifelte Unmut hat sich zum einen gegen Muslime und zum anderen gegen Parteien gerichtet, die angeblich zu wenig gegen illegale Einwanderung unternommen hatten. Dass Muslime heutzutage der beliebteste Sündenbock sind, ist klar. Aber diese Attacke wurde nicht generell im Namen des Islam begannen, sondern im Namen des IS. Und woher stammt denn der IS? Er ist nicht vom Himmel gefallen, sondern aus dem Chaos des Irakkrieg hervorgekrochen. Der völkerrechtswidrige Krieg der USA gegen den Irak war das Ereignis, auf den das Aufblühen und die Verbreitung des IS zurückzuführen sind. Das ist ein belegter historischer Fakt und kein Geheimnis. Ist es zu viel verlangt, auf diese verhängnisvollen Zusammenhänge hinzuweisen, öffentliche Debatten darüber zu führen und staatstragende Schlussfolgerungen daraus zu ziehen?

In Europa sind wir nicht mehr in der Lage, eigenständige und mutige Entscheidungen zu treffen. Anders ist auch die kategorische Verweigerung der Friedensgespräche zwischen den Kriegsparteien Ukraine und Russland nicht zu erklären. Dass Politikerinnen und Politiker, die sich heute für eine Kursänderung weg von Kriegshandlungen in Richtung Verhandlungen aussprechen, als Sprachrohre Putins gebrandmarkt werden, ist das eigentlich Unheimliche. Hat man mitbekommen, dass noch der späte aber geistesgegenwärtige Henry Kissinger empfahl, Selenskyj sollte sich auf Verhandlungen mit Russland einlassen? Kissinger war vieles, aber kein Pazifist, der vor Konfrontationen zurückgeschreckt wäre. Es sei denn, diese ergeben überhaupt keinen Sinn. Und da stellt sich die Frage, welche Aussicht die aktuelle Vorgehensweise bietet, außer, dass sie die Ukraine zerstört und den Rest Europas beutelt? Eine weitere Aussicht sollte nicht vergessen werden: diejenige auf eine Eskalation des Krieges durch nukleare Waffen. Kann jemand die Frage beantworten, wer etwas dabei verliert, wenn wir zumindest einen ernstgemeinten Versuch wagen, eine solche Verhandlungsrunde zu führen?

Es stellt sich bei Verhandlungen immer die Frage, wer am Tisch sitzt und wer nicht. Und wer von welcher Entwicklung in welcher Form profitiert oder nicht. Das trifft auch auf die geplante Lithiummine zu, der das fruchtbare und Leben spendende Jadar-Tal geopfert werden soll. Am Tisch: Die serbische Regierung, die EU, die deutsche Regierung, Mercedes und Rio Tinto. Nicht am Tisch: Die Serben. Denn letztere sind auf der Straße anzutreffen, wo sie die größten öffentlichen Proteste veranstalten, an die sich das Land erinnern kann. Und zwar gegen diese Verhandlungen, gegen diese Mine, die ohne Zustimmung der Bevölkerung durchgesetzt wird. Ist diese dritte Krise neben den Kriegen, die sich ebenso an Europas Peripherie abspielen, eher nebensächlich? Keineswegs. Es sind genau solche entscheidende Ereignisse, die eine atemlos gewordene Gesellschaft anfänglich übersieht, die sie aber später, wenn sich ihre katastrophale Wirkung entfaltet, einholen. Denn, wer weiß überhaupt davon? Wer spricht darüber, was sich in dieser südosteuropäischen Gegend für eine Erschütterung anbahnt, mit unabsehbaren Folgen für das Grundwasser?

Kaum jemand. Es ist wahrscheinlicher, dass man es in Deutschland erfährt, wenn der Kanzler in China eine Predigt über Menschenrechte und Demokratie hält. Nur wissen wir, dass eine Mehrheit der Serben gegen dieses Projekt ist, für das er extra nach Belgrad fliegt, über die Köpfe der Protestierenden hinweg direkt zu Vučić – seltsam, darf sich doch der selbe Vučić in anderem Kontext auch hin und wieder (und sehr zurecht) einen Vortrag über demokratische Standards anhören. Hier nimmt doch der Zusammenhang von kulturellem und ökologischem Klima als Kriterium einer glaubwürdigen Demokratie Form an, oder nicht? Dasselbe gilt übrigens für den weltweiten militärischen Sektor: Er verantwortet nicht nur tödliche Kriege, sondern auch Treibhausgasemissionen, die jene übertreffen, die von der zivilen Luftfahrt und vom Schiffsverkehr des Welthandels zusammen verursacht werden.

Unsere einfache Forderung für alle drei Krisen lautet: STOPP! Stoppen Sie die Vorstöße, Aufwühlungen und Kettenreaktionen – dieser Geist der Eskalation und Ausweitung ist es, der das Klima entzündet. Wir fordern Sie dringend dazu auf, Ihr Handeln zu wandeln. Andernfalls verirren Sie sich und werden sich weiterhin verirren – sowohl der Sache nach, wie auch dem Prinzip nach. Der Sache nach, aus den dargelegten Gründen, weil gegenwärtig vor allen Dingen Verwüstung bewirkt wird. Dem Prinzip nach, weil Sie – nachweislich – gegen den Willen der Bevölkerung vorgehen (siehe Links). Vor diesem Hintergrund muss Ihnen bewusst sein, dass Sie dereinst zur Rechenschaft gezogen werden können, falls Sie es weiterhin unterlassen, die einzig vertretbaren Entscheidungen zu treffen. Niemand hat das Recht, auf diese Weise unser gemeinschaftliches Klima zu zerstören, auf das unser Lebensraum angewiesen ist.

Sie unterschätzen ganz offensichtlich, wie akut die Gefahr des Kipppunkts heute ist. Sie unterschätzen, was da alles zu kippen droht. Ihnen entgeht, wie verstörend die Entwicklungen auf eine wachsende Anzahl von Menschen hier in Europa wirken. Und dass diese Menschen sich innerlich von den Repräsentanten und Institutionen bereits abzuwenden beginnen, die in ihrem Namen die Welt herunterwirtschaften. Sie überhören die Stimmen, die sagen: Das ist nicht mehr mein Westen. Das ist nicht mein Europa. Wir haben den Respekt verloren. Wir haben auch die Achtung verloren. Bald wird auch die Liebe verloren sein, aus der allein die Kraft kommen könnte, all das Verlorene gemeinsam wieder aufzubauen. Zu diesen Stimmen gehören wir, die diesen Appell an Sie richten.

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Quellen zu Meinungsumfragen:
Israel-Palästina:
https://yougov.de/politics/articles/49647-die-yougov-sonntagsfrage-im-juni-2024
Ukraine:
https://instituteforglobalaffairs.org/2024/06/modeling-democracy-the-new-atlanticism/
https://instituteforglobalaffairs.org/wp-content/uploads/2024/06/IGA-Modeling-Democracy-2024-The-New-Atlanticism.pdf
Serbien, Lithium:
https://n1info.rs/vesti/za-ili-protiv-litijuma-sta-je-pokazalo-istrazivanje-u-srbiji-sta-misle-ljudi-u-portugalu/
https://forbes.n1info.rs/vesti/istrazivanje-nspm-protiv-rudnika-litijuma-555-odsto-gradjana-a-protiv-nacionalnog-stadiona-531/

Militär, Krieg und CO2:
https://www.sgr.org.uk/resources/carbon-boot-print-military-0
https://theconversation.com/how-the-worlds-militaries-hide-their-huge-carbon-emissions-171466

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