Leseprobe "Prolog"

 
In meiner Anstellung bei einer Firma namens Thatcher Dynamics kam es des Öfteren vor, dass ich an einem jener Meetings teilzunehmen hatte. Jene Besprechungen, bei denen die meisten Teilnehmer das Gefühl haben, dass ihre Anwesenheit überflüssig ist oder sich nach einem kurzen Beitrag erledigt hat. Von acht Anwesenden waren vielleicht zwei wirklich unentbehrlich, die anderen hingegen saßen zumeist mit einer Art abgeklärten, passiven Bereitschaft da. Meine Gedanken schweiften regelmäßig ab – was war das hier, was sollten diese Meetings? Die Gedanken kreisten um diese Kultur der Geschäftswelt, der Beratung und Kreativwirtschaft, der Kundenbeziehungen, der internen Kommunikation und Konkurrenz, der Berichte, Reportings, Prognosen und Kostenvoranschläge. Ich begann kritische Notizen zu machen in das Notizbuch, das ich von der Firma bekommen hatte. Ich war mir ehrlich gesagt nie ganz sicher, ob den anderen klar war, dass ich meine eigenen Sachen da hinkritzelte oder ob es mir von außen den Anschein verlieh, aufmerksam und interessiert zu sein. Jedenfalls fiel nie eine skeptische Bemerkung. Ich schrieb Stichworte auf, skizzierte Diagramme oder Mindmaps, notierte Fragen, denen ich nachgehen wollte. All das betraf nicht direkt den Inhalt dieser Besprechungen, sondern es waren Gedanken, die aus ihrem absurden Klima aufstiegen, um sich davon zu befreien und zu distanzieren. Die Institution dieser Meetings und vor allem das Wesen des Meeting Room als Ort, als Veranstaltung, als Instanz, kam mir bald wie eine beklemmende dystopische Macht vor.

  
Dass ich immer mal wieder etwas notierte, hatte damit zu tun, dass ich auch sonst viel Notizen machte, außerhalb der Arbeit. Und ich stellte fest, dass Meetings und vergleichbare Situationen wie beispielsweise Präsentationen von Kollegen und Vorgesetzten eine interessante Quelle von Gedankenanstößen waren. Bald entdeckte ich auch, dass diese gedanklichen Zusammenhänge über die Arbeitswelt hinausgingen und letztlich mit allem anderen eng verbunden waren, was unser Leben bestimmte und gestaltete. So wurde dieses Notizbuch ein Parallelheft neben meinem anderen und ich nannte es für mich das Europabuch. Denn es zeigte sich bald, dass sich die Einträge darin mit der Frage beschäftigten, was mit dem Gefäß passiert, in dem wir leben. Mir wurde je länger je klarer, dass es ein krasser Irrtum war zu glauben, dass ich abends nach Hause oder in die Stadt gehen konnte, um dort den Dingen nachzugehen, die mich wirklich interessierten, ohne dass diese von der Realität der globalen strategischen Geschäftswelt beeinträchtigt wurden. Es wurde mir bewusst, dass meine persönliche Strategie, das Nötigste zu arbeiten, um mich dann der autonomen Welt der Philosophie und der Kunst zu widmen, leider ein ganz schlechtes Modell darstellte. Ich verstand schließlich, dass es kein Parallelbuch geben konnte, was umgekehrt hieß: mein ursprüngliches Haupt-Notizbuch existierte nicht in einer parallelen, autarken Sphäre, die von den Dingen, mit denen sich das Europabuch zunehmend füllte, nicht tangiert wurden. Die Philosophie schert sich wenig um Politik und wenn, dann theoretisch, aber nicht aktivistisch. Der Schluss, zu dem ich jedoch kam, war, dass nur aus der Theorie selbst die Erkenntnis hervorgehen konnte, dass sie ihren eigenen Bereich überschreiten musste, um sich um die kulturelle Wirklichkeit zu kümmern, in die sie letztlich eingebettet war. Andernfalls drohte sie bald zu verkümmern. Denn das Klima des Meeting Room hat längst die ganze Welt eingehüllt und dessen Geist ist weit in all ihre Bereiche eingedrungen. Ein unentrinnbares und einseitiges Klima, in dem irgendwann gar keine wahre Philosophie mehr gedeihen kann – weil ihre Sprache nicht mehr verstanden, weil ihre Stimme nicht mehr vernommen wird. Und damit würde auch die freie Kunst und das wilde, lustvolle Leben in ein virtuelles Museum verbannt.

 

Meine eigene Präsenz an diesen seltsamen Schauplätzen des Arbeitsalltags spiegelte dieses Problem übrigens exakt wider. Ich löste mich bis zu einem gewissen Grad los und nahm diskret eine kontemplative Stellung ein (nur jemand, der mich gut kannte, hätte es mir angesehen). Ich drang zu einer Schicht der Dinge vor, die mich interessierte. Hintergründe unseres angepeitschten Treibens wurden erkennbar, wie durch einen konzentrierten Blick auf den Sternenhimmel, an dem bald überall Konstellationen aufleuchten, wo zuvor nur zerstreute Punkte waren. Nur dass mich dieser Blick isolierte. War das Meeting zu Ende, schien es bald, dass es gar nicht möglich war, den Meeting Room wirklich zu verlassen. Seine Logik, seine Prinzipien und Sichtweisen hatten sich weit über den Besprechungsraum ausgebreitet. Und das beschränkte sich nicht auf das Büro. Nach Feierabend auf der Straße, in den Geschäften, auf den Bildschirmen und in den lärmigen Unterhaltungen setzte er sich fort. Auch in einem Lokal mit Freunden. Er war der Ursprung einer Frequenz, die wir hinaus in die Welt trugen – wir waren seine Träger.