
Leseprobe "Prolog II"
Ich ging spontan an die Demo in meiner Stadt. Sie war das, was übrig blieb, als ich mich zunehmend überflüssig fühlte. Als ich es allmählich aufgab, die anderen überzeugen zu wollen. Eine seltsame Erfahrung, befreiend und beängstigend zugleich. Die freigesetzten Energien spülte es dann in diese Mündung der Demo, in der alles zusammenkam, was sich nicht erübrigt hatte, weil es sich nicht erübrigen ließ. Es gab dort viele Menschen wie mich, solche, die noch etwas übrig hatten, Mut vielleicht oder Wut, aber keine passenden Worte mehr. Ein Chor ohne Helden, um die er sich scharen konnte. Ich nahm meine kleinen Bücher mit, um sie vielleicht jemandem zu zeigen. Als ich sie später in meiner Westentasche bemerkte, musste ich über mich selbst lachen. Ich begann überhaupt über alles zu lachen, die ganzen Anstrengungen und Erwartungen. Gelegentlich schrie ich mir auch die Kehle wund, als wir die Innenstadt durchquerten: „While you’re shopping, bombs are dropping!“. In einer reichen mitteleuropäischen Stadt hatten solche Szenen etwas Absurdes. Zuerst kam ich mich vor, als würde ich mit einer Horde Punks das Disneyland stürmen und Kinder erschrecken an einem friedlichen Sonntag. Dann begriff ich, dass es an diesen Menschen nichts mehr zu entblößen gab. Nichts, was ich nicht schon längst gewusst hätte. Dass sie kein Geheimnis hatten. Auch keinen Frieden, den ich hätte stören können. All meine Versuche, Illusionen aufzudecken liefen nur auf diesen Punkt hinaus, an dem ich mich vor ihren Augen entblößte. Ich sah mich selbst in der Glasscheibe eines Modehauses gespiegelt und musste wieder lachen. Da wollte ich noch einmal sagen, wie es ist. Wie es aussieht als Bloßgestellter unter Bloßgestellten. Ich wollte zeigen, dass ich bloß sagte, wie es war und nichts weiter. Dass ich publizieren musste, wie ich gezeigt hatte, was ich gesagt haben wollte. Dass ich noch publik machen musste, was ich publiziert hatte. Noch einmal. Mit aller Kraft, die noch übrig blieb. Davon erzählen, wie ich veröffentlichte und verbreitete, alles aufzeigte, mit meinem Blut schrieb oder es zumindest versucht, es wenigstens ausgesprochen hatte, daran erinnernd, dass der Anblick auf das Bloße bereits enthüllt war, aber nicht wahrgenommen wurde. Weil er nicht wahr sein konnte, nicht wahr sein durfte. Zu schrecklich war er.
Als ich mich dann nachts irgendwo hingelegt hatte, um mich von den Strapazen der Demo zu erholen, spürte ich etwas unerwartet Schönes. Das Gefühl, mich selbst entblößt zu haben, weckte eine Erinnerung. Es ging um eine Frau. Um einen Abend, einen Blumenstrauß, um einen vergeblichen Auftritt. Diese Elemente loderten nun in meinem Gedächtnis und ließen alles wieder aufflammen. „Romantisch ist, wenn man bereit ist, sich zu blamieren.“ Das hatte ich ihr damals geschrieben, allerdings erst im Nachhinein. Ihr gefiel das, aber das änderte nichts. Ich war mit einem Strauss an ihrer Premiere aufgekreuzt, unangemeldet, ein dummer Fehler. Der Anlass war nur für Interne und Angehörige, und so stand ich da und sah mich um. Die Leute blickten zu mir hinüber – wer ist der Typ da mit dem Strauß in der Hand? Sie war von ihren Leuten umgeben und nahm ihre Komplimente an. Immerhin hatte sie einen kurzen Moment Zeit, um auch meine Blumen entgegenzunehmen. Damals hatte ich mich ebenfalls selbst im Spiegel gesehen, im gediegenen Entrée dieses Theaterhauses. Der Anblick meines Spiegelbilds entlockte mir schon damals ein Schmunzeln, wie jener in der Scheibe der Modeboutique. Es wurde mir klar, dass es so sein musste, dass man auf eine mysteriöse Art unverwundbar war im Augenblick seiner größten Verletzlichkeit. Ich sagte mir, dass es mit der Liebe und dem Verliebtsein etwas zu tun haben musste. Und deshalb schrieb ich ihr dann diese Textnachricht mit meinem Statement zur Romantik. Unter dem Eindruck der Demo leuchtete mir das von Neuem ein. Es musste trotz allem noch ein wenig Liebe im Spiel sein, wenn ich bereit gewesen war, mich zu entblößen, zu blamieren. Nur dass sich kein Platz für sie finden ließ. So wie es sie in die Straße gespült und auf den Weg des Umzugs gebracht hatte, so glitt sie auch wieder davon, ins Ungewisse.
Diese Anekdote hat es übrigens in die Annalen der Agenturwelt geschafft. Bei meinem Antritt musste ich, wie jeder andere, eine peinliche Geschichte vor dem gesamten Team zum Besten geben, die dann im wöchentlichen Newsletter Erwähnung fand. Mein Freund hatte mich damals beraten, denn ich wog zwischen zwei Geschichten ab. Einerseits ein Alkoholabsturz in jungen Jahren inklusive Übelkeit und Erbrechen am Tag darauf, dem Tag meines Schulabschlusses. Und andererseits eben die Geschichte mit dem Blumenstrauß. Mein Kumpel riet mir sofort zu letzterer: „Eine „bsoffne Gschicht“ hat jeder, die andere lässt dich viel sympathischer erscheinen.“ Damit lag er goldrichtig. Wenige Monate nach meinem Debüt wurden Abstürze und Saufgeschichten sogar verboten. Sie genügten nicht mehr und wurden als zu wenig peinlich eingestuft. Ich bereute bald, mein Erlebnis auf diese Weise ausgenutzt zu haben. Wie ich jetzt darüber nachdachte, wurde mir bewusst, zu welch frühem Zeitpunkt die Liebe tatsächlich in Gefahr geraten war. Nicht nur weil diese wunderbaren Episoden des Lebens auf eine plumpe Art und Weise zum Zwecke des sogenannten Team Buildings verwendet worden waren. Es steckte mehr dahinter. Die Entblößung, die ich als Schlüssel für die Liebe entdeckt hatte, wurde instrumentalisiert. Denn sie ist genauso der Schlüssel für die romantische Liebe wie für die Liebe im größeren Zusammenhang. Die Liebe jenseits unseres Privaten, für das, was alles zusammenhalten konnte, für die Weltkomödie. Da ließ ich mich ohne Hintergedanken zu einer kleinen Schwärmerei hinreißen, die mich zurück zu den Anfängen meiner Agenturzeit führte und machte die unverhoffte Entdeckung, dass genau dieser geheime Schlüssel für die Funktionstüchtigkeit des Weltgetriebes missbraucht wurde. Eine zweckorientierte Pseudo-Verspieltheit bei der jeder lernt, so zu tun, als würde man so tun als ob, da man in Wahrheit keine Wahl hat. Eine vorgetäuschte Art, sich spielerisch zu geben, die man sich aneignet, um vielleicht irgendwann zu den Gewinnern zu gehören. Jeder lässt die Hosen runter, aber nicht zur Befreiung, sondern um sich einzureihen. Das war natürlich überspitzt, aber im Grunde doch eine zutreffende Erklärung für die Dynamiken, die da am Werk waren. Dieser gestellte Akt, aus der Reihe zu tanzen und etwas von sich zu teilen, das peinlich war, war auch nur eine Art sicherzustellen, dass das Erzählte überhaupt jemanden juckte. Das Letzte, was in einer Gesellschaft von Performern noch authentisch ist, ist der Unfall, der peinliche Zwischenfall, den das Publikum benötigt, um einen Beweis zu haben, dass jemand tatsächlich ein Opfer bringt, tatsächlich lebt. Aber natürlich begreift jeder sofort, dass auch diese Strategie scheitern muss. Denn die Vorstellung des „Authentischen“ war vielleicht das Allerpeinlichste, was damals so kursierte. Natürlich waren diese Darbietungen von Fehlern und Bruchlandungen umso gestellter und nichtssagender, je schlimmer und peinlicher sie waren. Jeder spürte das. Die ganze Situation war gestellt. Es sollte ein jeder seine Scheiße ins Gestell stellen, so wie man Vintage Trash in eine Show des MoMA stellt, je abgewetzter, desto wertvoller – Sucht der Menschen, die sich selbst nicht aufs Spiel setzen. Gestellte Scheiße, das war die verborgene Zauberformel des Mehrwerts. Und darum ging es ja. Die Zahlen mussten stimmen. Im Prinzip brachte man uns mit diesem obskuren Ritual der peinlichen Geständnisse nur bei, wie es funktionierte. Die wichtigste und im Grunde einzige Lektion gleich am ersten Tag zum Auftakt: Authentische Scheiße im smarten Gestell, das ist es, was wir liefern. Und genau das ist es auch, was wir leben: „We love what we do!“
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