Leseprobe "Frankfurt am Main – Milano Centrale"
Sándor sitzt im Speisewagen an einem Fensterplatz. Auf dem Tisch liegt ein ausgedrucktes Manuskript mit handschriftlichen Notizen an den Rändern. Daneben ein altes dunkelfarbiges Notizbuch. Es ist Tag und der Zug fährt durch eine gebirgige Landschaft. Sándor blickt durchs Fenster, das Wetter ist nass und bewölkt. Alles erweckt den Eindruck eines vergessenen Erdteils ohne Ausgang. Er wendet sich ab und greift mechanisch nach seinem Notizbuch, um darin zu blättern. Er bleibt bei einem Eintrag hängen und liest.
#kritik #wiederholungen #revolutionen #stagnation
Viele sind sich zu schade für Kritik, für Kapitalismuskritik, für Systemkritik usw. Von Menschen, die noch die 60er und 70er miterlebten, damals vielleicht sogar mitgewirkt haben höre ich Aussagen wie „das hatten wir ja alles schon einmal“. Sehr merkwürdig. Auch in meinem näheren Umfeld: Einst noch engagiert in Lateinamerika, scharfe Ablehnung gegen orchestrierte Staatsstreiche und kapitalistische Dominanz – heute Achselzucken (was nebenbei die eingenähten Epaulettes des Sakkos zur Geltung bringt). Die Denkblockade scheint u.a. damit zu tun zu haben, dass die kritischen Stimmen keinen neuen Mehrwert erkennen lassen. Wer interessiert sich schon für etwas, das längst im Museum registriert wurde. Das erweckt den Anschein, dass die Kritik überholt ist. Das Gegenteil trifft aber zu: Sie kann gar nicht überholt sein, weil ihr Gegenstand sich nicht erledigt hat. Oder: Wenn das Objekt der Kritik stagniert, bleibt der Kritik gar nichts anderes übrig, als sich zu wiederholen. Viele hoffen trotzdem, dass sich alles verbessert, wenn man erst einmal aufhört, ständig so negativ zu sein: „Keine Verbote, sondern Anreize!“ Oder „Immer diese Appelle und dieses Complaining, das bringt nur Verdruss!“ Auf der anderen Seite: was heißt‚ der Kritik bleibt „gar nichts anderes übrig, als sich zu wiederholen“? Es gibt ja auch jene, die automatisch ihren Marx aus der Innentasche ziehen und sagen, sie hätten es schon damals gesagt und sie würden es auch heute gerne noch einmal wiederholen. Letztlich scheint es so, dass ein Kern der Kritik tatsächlich nur wiederholen kann, was schon lange bekannt ist, dass aber die lautesten Kritiker nicht ohne Ideologie auskommen. Und weil diese ideologischen Weltbilder die Kritik immer vereinnahmt hatten, können die meisten das Eine gar nicht mehr vom Anderen unterscheiden. So scheint ihnen alles zusammen museal. In Wahrheit handelt es sich beim ältesten und größten Dinosaurier jedoch um nichts anderes als um das bestehende, aktuelle System des sogenannten Westens. In diesem Umfeld wird revolutionäre Energie verschoben: die Revolutionen sind nur noch Umdrehungen von Rädern eines Vehikels. Und die Bahn, auf der sie unser Vehikel anschieben ist auch kreisförmig (oder vielleicht noch eine Achterbahn, damit jeder denkt „da geht was!“).
Sándor schaut auf und sucht die Kellnerin, aber sie ist nirgends zu sehen. Er lehnt sich zurück und denkt nach. Es vergeht eine Weile, dann kommt ein junger Mann und fragt ihn, ob er sich zu ihm an den Tisch setzen darf. Sándor bittet ihn, Platz zu nehmen.
MITFAHRER: Wohin fährst du?
SÁNDOR: Noch offen.
MITFAHRER (nickt zustimmend): Eine gute Art zu reisen.
SÁNDOR: Und du?
MITFAHRER: Ich begleite Mia.
SÁNDOR: Mia?
MITFAHRER: Die Kellnerin.
SÁNDOR: Ach so.
MITFAHRER: Bist du öfter mal einfach so unterwegs?
SÁNDOR: Nicht unbedingt. Aber gerade mag ich nicht zurück nach Hause.
MITFAHRER: Stress?
SÁNDOR: Nein, das nicht. Ich schleppe eine Art Wolke über meinem Kopf mit mir herum. Es ist wie beim Spazierengehen. Wenn ich manchmal nach Hause zurückkehre, passe ich gar nicht recht durch die Türe. Ich muss dann nochmals um den Block, um den Park, unter der Unterführung durch. Erst wenn die Wolke sich entladen hat, bin ich bereit und kann einkehren.
MITFAHRER: Wie kommt’s?
SÁNDOR: Gedanken, nichts weiter. Die lassen sich am besten gehend verarbeiten. Oder eben fahrend.
JEAN: Und was sind das für Gedanken, die dich umhertreiben?
SÁNDOR (blickt zur Seite): Beunruhigende. Zuweilen auch erfreuliche.
Der Zug fährt in einen Tunnel. Die Fensterscheibe, hinter der eben noch ein abweisendes Gelände sichtbar war, verwandelt sich schlagartig in einen Spiegel, der Sándors Gesicht und den Innenraum des Speisewagens erscheinen lässt. Dann kommt Mia mit einem Bier in der Hand und setzt sich neben den unbekannten Mitfahrer. Endlich stellen sich die beiden als Mia und Jean vor und fragen auch Sándor nach seinem Namen.